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Dienstag, 6. Oktober 2015

Alltagsmärchen (2010) - Kurzgeschichte


Etwas knallte laut gegen das Fenster.
Mary und ich waren gerade dabei ein Buch zu lesen. Ein Märchen…
Mary liebte Märchen und Prinzessinnen. Am liebsten war sie selbst eine und so trug sie auch jetzt einen schreiend rosa Tülltraum, der mich jedes mal fast zum Kotzen brachte ( Ich meine: Rosa!!) und eine silberne Tiara mit goldenen, roten und lila Steinen.
„Was war das?“ fragte Mary mich mit ängstlicher Stimme
„Was ?“ erwiderte ich eher desinteressiert.
„Geräusch...“
„Du sollst in ganzen Sätzen sprechen, Kleine.“
Mary stand auf, nahm ihren goldenen Prinzessinen-Feen-Super-Glitzer-Zauberstab und schlich zum Fenster. Dann drehte sie sich zu mir um und schaute mich erwartend an.
Ich kannte diesen Blick.
Meine kleine Schwester setzte ihn immer auf wenn sie etwas haben wollte (und das war sehr
viel) oder wenn sie etwas von einem wollte, so wie jetzt.
Seufzend stand ich auf, wählte meine Zauberwaffe (eine Taschenlampe) und stellte mich neben sie.
„Unterfee, öffne das Fenster“ kam in einem zuckersüßem Tyrannenton.
Keiner konnte das besser als Mary. Ich wog meine Möglichkeiten ab: Mama und Papa waren nicht da, was bedeutete, dass wenn ich nicht gehorchte, ich auch Marys Launen ertragen würde müssen. Also gehorchte ich und öffnete das Fenster.
„Schau raus und berichte!“ befahl mir meine Tüllmonster-Oberfee. Gehorsam beugte ich mich hinaus.
Gerade als ich zu einem: „Hier ist nichts“ ansetzte sah ich es. Oder besser ihn.
„Oh...“, mir entfuhr ein überraschter Laut , „Der Arme...“
„Was ist da ?! Wer ist da?! Sag's mir sofort!!!!“
„Beruhig dich, da ist nichts.“ log ich. Mary rannte zu ihrer Balkontür. Ich frage mich jedes mal wie jemand wie jemand der so viel Tüll um die Beine hat so schnell rennen kann.
„Doch da ist was! Sonst hättest du nicht so blöde geguckt!“
Mist. Klug ist sie ja, die Kleine.
„Du musst mir jetzt auf der Stelle die Tür aufmachen!“
„Nein.“
„Doch“
„Nein“ erwiderte ich mit mehr Nachdruck.
„Doch!“ kam entschieden und mit einem Schienbeinkick zurück.
„Autsch! Spinnst du ?!“
„Das bist nur du schuld! Und jetzt mach mir die Tür auf!“
Ich seufzte resigniert, wenn Mary so drauf war konnte sie sehr überzeugend sein. Ich öffnete die Tür und trat mit meiner Schwester auf den Balkon. Ich schwieg. Ich wusste was nun passieren würde.
„Schau mal Annie, ein kleiner, schlafender Vogel“
„Er schläft nicht Mary..“
„Doch. Guck doch. Seine Augen sind zu“
„Er ist Tod.“ Nicht sehr schonend aber ich hasse es um den heißen Brei herum zu reden.
„Tod? Wie die Bösen am Ende der Märchen immer?“
„Ja, genauso“
„Was hat er denn böses gemacht, Annie“ fragte sie ängstlich.
„Gar nichts, vermutlich“
„Aber warum ist er denn dann tot ?“
„So ist das eben. Menschen und Tiere sterben auch wenn sie es nicht verdient haben.“ während meiner Worte füllten sich die Augen meiner Schwester langsam mit Tränen
„Wie unfair!“ jetzt liefen die Tränen in Sturzbächen.
„Ach Schwesterchen, komm her...“ Ich nahm Mary in den Arm und versuchte sie zu beruhigen. Doch sie wollte nicht aufhören. Also ließ ich sie in meinen Armen weiter weinen und betrachtete den toten Vogel.
Es war ein kleines Rotkehlchen. Die Federn auf seiner Kehle waren wirklich feuerrot. Obwohl es tot war war es wirklich wunderschön.
Da hatte ich plötzlich eine Idee.
„Mary, sollen wir es so machen wie die sieben Zwerge?“
Sie schniefte: „Was?“
„Wie die sieben Zwerge, in dem Märchen. Als Schneewittchen stirbt, da bauen sie ihr doch einen Sarg und begraben sie.“
„Sie begraben sie doch nicht! Sie bleibt über der Erde… Aber“ erneute Tränen.
„Der Vogel würde sich sicherlich über ein Märchenbegräbnis freuen.“
„Vielleicht hast du recht...“
„Natürlich hab ich das!“
„Okay“
Ich lächelte sie an: „Besorgst du die Gäste, das Essen, die Musik und den Sarg? Ich kümmere mich um das Loch.“
Ein letztes Schniefen: „Ok, mach ich.“
„Den Sarg brauche ich zuerst.“
„Jawoll, Ober- Bestatterin“
Ich machte mich auf den Weg um Handschuhe und einer Schaufel zu hohlen. Mary war indes eifrig auf der Suche nach einem passenden Sarg.
Als ich wieder in ihrem Zimmer ankam, war sie gerade dabei einen kleinen Schuhkarton anzumalen.
„Da, bin fertig“ sagte sie und streckte mir den Regenbogen-Bunten-Sarg entgegen. Ich nahm den Karton.
„Super, wenn du gerade eh schon am Basteln bist, mach doch gleich noch einen Grabstein, ok ?“
Mary nickte begeistert.
Wieder draußen auf dem Balkon schob ich, mit meiner behandschuhten Hand, das Rotkehlchen auf die Schaufel und ließ es danach vorsichtig in den Schuhkarton rutschen. Ich schloss den Karton und nahm ihn mit in den Garten.
Mary war schon dort und baute Kuscheltiere und Puppen auf. Neben ihr stand ein Tablett mit Keksen.
„Wo wollen wir ihn begraben, Mary?“
„Da. Neben den Rosen“
Ich zuckte mit den Schultern, das ging ja noch. Ich hatte mich darauf vorbereitet den gesamten Garten umgraben zu müssen.
Etwa 30 Minuten später war das Loch fertig.
Während Mary eine, improvisierte, Rede hielt, legte ich den Karton in das Loch. Danach half Mary mir das Loch wieder zu verschließen. Das dabei ihr rosa Tülltraumkleid dreckig wurde machte ihr scheinbar nichts aus. Als großes Finale stellte Mary den Grabstein auf. Es war mein Mäppchen. Sie hatte mit Edding ein Kreuz und ein Rotkehlchen darauf gemalt.
Ich musste lächeln.
„Auf Beerdigungen lächelt mann nicht! Man weint“ sprach die kleine Tyrannin und Hauptleidtragende.
„Ach Mary… Meinst du nicht, es wird langsam Zeit die restlichen Kekse zu essen?“
„Wieso restlichen?“
„Weil ich genau gesehen habe wie sich eine kleine Prinzessin ein Paar davon genommen hat.“
Strafend schaute Mary zu ihrer Lieblingspuppe:
„Also wirklich Elisabeth...“
Ich nahm mir die hälfte der Puppen und den Keksteller.
„Komm du kleines Keksmonster“
„Wenn überhaupt bin ich eine Keksprinzessin!“
„Von mir aus auch das.“ erwiderte ich schmunzelnd.
Mit Keksen und Spielzeug verzogen wir uns wieder in Marys Zimmer. Sie setzte sich auf meinen Schoss und fütterte uns beide mit Keksen, während ich das Märchen zu ende las.
„Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.“

Ende

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