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Dienstag, 13. Juni 2017

Der alte Mann mit dem blauen Schal (2016) - Wortspiel

Montagmorgen. Die Temperatur liegt bei knapp über null. Es riecht nach Schnee. Müde Gesichter quälen sich zur Arbeit, zur Uni oder zu anderen Verpflichtungen. Auf dem Weihnachtsmarkt am Alexanderplatz trinken die ersten Touristen schon Glühwein.
Die S7 nach Potsdam Hauptbahnhof fährt auf Gleis eins ein. Ich steige mit unzähligen anderen ein. Ein stummer Kampf um die wenigen Sitzplätze beginnt. Heute kein Glück. Der Hacksche Markt und die Museumsinsel ziehen vorbei.
Friedrichstraße. Viele steigen aus. Endlich sitzen. Viele steigen ein. Auch eine Gruppe Musiker. Wie jeden Morgen versuchen sie die anderen Fahrgäste davon zu überzeugen, dass sie wirklich selbst spielen. Jeder weiß, dass der Verstärker die Arbeit übernimmt.
Die Bahn fährt weiter. Ich schaue auf mein Handy. Im Hintergrund läuft „hit the road jack“. Blechern, lieblos.

Am Tiergarten entlässt mich die Bahn in die unerträgliche Kälte. Meine Hände suchen in den viel zu kleinen Hosentaschen Schutz. Wie jeden morgen pilgere ich mit den anderen Studenten in Richtung Uni. Immer die Straße des 17. Juni entlang. Einige reden, andere Schweigen. Uns ist zu kalt. Die wenigsten scheinen wirklich Lust zu haben hier zu sein.
An der Ampel zum Chemiegebäude wird der Tross gestoppt. Rot. Zumindest auf unserer Seite.
Von links schnellen die Autos an mir vorbei. Ich warte. Hoffe, dass bald grün wird.
Ein Auto hupt. Mein Blick schnellt zur Seite. Ein Fahrradfahrer hat einen Rechtsabbieger gestört.
Der Mann im Auto regt sich fürchterlich auf. Man kann ihn nicht höre aber seine Gesten sind deutlich. Der Fahrradfahrer scheint sich nicht darum zu kümmern. Er lächelt.
Im Vorbeifahren winkt er dem Autofahrer zu. Gemächlich strampelt er weiter in Richtung Ernst Reuter Platzt.
Als er an der Ampel vorbeifährt mir auf wie alt er ist. Für einen kurzen Moment kann ich die Falten in seinem Gesicht sehen. Wie eine Karte seines Lebens zeigen sie, dass er ein fröhlicher Mensch ist. Auch jetzt lächelt er. Die Kälte und die graue Monotonie eines Berliner Montags scheinen ihn nicht zu berühren.
Ich schaue ihm hinterher. Um mich herum fangen die anderen Studenten an die Straße zu überqueren. Ich bleibe stehen. Die Kälte hat sich mittlerweile durch meine Jeans gefressen.
Der alte Mann folgt langsam dem Radweg. Um ihn herum stehen parkende Autos, fahren andere Radfahrer. Er steht wie ein Ruhepol in mitten eines Schneesturms.
Um ihn herum ist alles grau. Der Himmel, die Gebäude und die Menschen. Er aber trägt einen blauen Schal. Die ersten Schneeflocken setzten sich auf meiner Brille ab.
Ich wende mich wieder der Ampel zu. Sie ist wieder auf Rot gesprungen. Ich stehe alleine an der Ampel. Auf der anderen Straßenseite sehe ich die Masse von Studenten mit denen ich hierher gefahren bin. Es wird noch ein paar Minuten dauern bis die Bahn die nächsten hundert ausspuckt. Bis die nächsten hundert sich zu mir gesellen werden.
Es schneit jetzt stärker. Trotz der Kälte muss ich lächeln.
Die Ampel springt auf grün.

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